Otto Carstens

Unser lieber Freund
Otto Carstens ist verstorben:
Qigong im Lichte der „Neuen Phänomenologie“

Rüm hart – klaar kiming
(Weites Herz – klarer Horizont)
(1)

Das Meer am Südstrand war ruhig, der Himmel über dem Jadebusen offen und weit. Bei auflaufendem Wasser entnahmen wir etwas Sand, getrocknet von Sonne und Wind, und frisches Meerwasser – dachten an so viele schöne und interessante Zeiten…
Am Südstrand in Wilhelmshaven, dem einzigen Südstrand an der Nordseeküste, hatte Otto des öfteren übernachtet, wenn er Seminare bei uns abhielt.

Die Nacht war klar und alle Sterne kamen am Himmelsgewölbe zusammen,  als wir aufbrachen. Wir traten einen schweren Weg an, einen Weg, der uns so oft beflügelte. Die Küstenstraße entlang in Richtung Osten überquerten wir Weser und Elbe. Zum Tagesbeginn stieg Nebel auf, Kraniche zogen am Himmel vorüber. Genau auf den Tag waren es drei Monate her, da führte Otto uns zu seiner letzten Ruhestätte, in der Erde, im Gewurzel eines Buchenbaumes. Heute nun war es soweit.
Die Beisetzung fand im engsten Familienkreise statt, so war es verfügt. Brahms und Beethoven stützten die Trauerrede seiner lieben Ehefrau.

Ingo fasste unsere Gestimmtheit mit einem Senryu ein, einer traditionellen japanischen Dichtform:

Oh Ha, tönend Schlag,
Regenbogen ins Morgen,
im Nebel daheim.

Wir gaben die von uns mitgebrachte Erde und das Wasser in den Boden ein …

Vor etwa 13 Jahren entstand die für uns so wichtige Verbindung zu diesem außergewöhnlichen Mann. Ganz unabhängig voneinander fanden Otto Carstens und wir zu den Werken von Hermann Schmitz und seiner „Neuen Phänomenologie“. Für Otto Carstens war völlig klar, was wir „entdeckt“ hatten: Qigong sind Leibes-Übungen!

Als wir damals, suchend und fragend, praktizierend und forschend, die Werke von Hermann Schmitz fanden, wussten wir: Dieser Mann schreibt von dem, was wir in unseren Übungen praktizieren. Damals dachten wir uns, diesen Hochgelehrten einmal aufsuchen und ihm unsere Übungen vorstellen zu können. Wir fragten uns auch: Macht er vielleicht sogar selber Leibes-Übungen?
Angesichts der Fülle und Größe des Werkes trauten wir uns nicht diesen Schritt zu wagen. Wir entnahmen die für uns wichtige Terminologie des Leibes und betteten sie dort ein, wo sie für uns hingehört: in die Praxis unserer Übungen.
Über die Herausgabe unserer Lehr- und Übungsfilme wurde Otto Carstens auf uns aufmerksam. Zu seiner Frau sagte er: „Da muss ich mal hin, die verstehen, was sie dort machen …“.
Otto Carstens kam zu uns nach Wilhelmshaven in unsere Seminare, und es begann für uns das größte geistige Abenteuer und die aufregendste Zeit unserer Übungspraxis, unseres Lebens, unserer Selbstfindung.
Es ist für Außenstehende wohl kaum vorstellbar, in welcher Intensität und in welcher Qualität wir zusammen an den unterschiedlichsten Übungspraktika arbeiteten. Otto, der schon viele Übungsformen erlernt hatte, lernte nun noch die unsrigen, und wir die von ihm ausgesuchten seinigen. Das Projekt erhielt von Otto Carstens den Namen:

Qigong im Lichte der „Neuen Phänomenologie“.

Für Otto galt es, fein und klar zu unterscheiden, was gymnastisch ist mit erlernter Vorstellung und Außenwirkung, und was für jeden Menschen selbst „am eigenen Leibe“ spürbar ist. Damit begann für den pensionierten Studiendirektor a. D. mit dem Ehrentitel „Crassus“ (Erich Maletzke, “Schleswig-Holsteinische Landeszeitung”, 26.10.2013) eine zweite Dienstzeit als „Schulmeister“ und Lehrer für Leibes-Übungen. Ab Anfang 2007 erfolgten mehrmals im Jahr Seminare und Privatissima zu diesem Thema, u. a.: Yangsheng-Qigong, Emei-Qigong, Wudang-Qigong, Fliegender Kranich-Qigong, Wasserwellen-Qigong, Zhinenggong, Hui Chun-Qigong – alles wurde leibphänomenologisch beleuchtet und praktiziert.  Zum Repertoire seiner Übungspraktika zählten ebenso verschiedene Tai Chi Chuan-Formen, wie etwa verschiedene Versionen der freihändigen Yang-Formen in 108 Bildern, Chen-Stil, diverse Geräte-Formen wie Säbel, Schwert und Fächer und Liuhebafaquan. Mit einer ortsansässigen Übungspartnerin praktizierte er ausgedehnt nahezu die gesamten Tai Chi-Tui Shou-Partnerübungen.

Seine Erkenntnisse trug er sowohl den Hochgelehrten vor, sei es in der „Gesellschaft für Neue Phänomenologie“ (LINK Nachruf GNP), dessen Gründungsmitglied er war, als auch in seinen zahlreichen Kontakten, bis hin nach Griechenland und China. Und er scheute sich nicht, in unseren Seminaren auch andere daran teilhaben zu lassen, ging bescheiden (Nur kein Brimborium!) zu ihnen in die Gymnastik- und Sporthalle: zu uns, die wir dankbar waren und sind! Wir durften über die Jahre hinweg immer wieder tagelang im Hause der Familie Carstens in Büdelsdorf/bei Rendsburg verbringen, um zu forschen, lernen und natürlich zu praktizieren. Otto brachten wir gerne in Wilhelmshaven in einem der älteren Hotels direkt am Südstrand unter, mit Blick nach Süden, direkt auf den Leuchtturm Arngast.  (Arngast Seerose)
Alles wurde wohlwollend unterstützt durch seine liebe Frau und von seiner Familie.

Das „emanzipatorische Potenzial“ entdecken

In seinem „Flyer“ wurde seine Absicht klar:
Da unser westliches Alltagsdenken uns teilweise von ganz elementaren Erfahrungen abgeschnitten hat, hält man die Übungen des Qigong gewöhnlich ganz unreflektiert für eine Art Gesundheitssport und Entspannungs-Gymnastik.
Im Gegensatz dazu haben wir uns die Aufgabe gestellt, Qigong zu üben mit einem „anderen“ Verständnis von Leib und Welt und damit das „emanzipatorische Potenzial“, das in den Übungen steckt, zu entdecken.
Uns leitet dabei die Überzeugung, dass durch die Übungen etwas erfahren werden kann, wofür wir Europäer gewöhnlich keine Begriffe und Worte mehr haben und worüber wir deshalb oft hinwegleben. Bei dieser schwierigen „Wiederentdeckung des Vergessenen “ helfen keine gedankenlosen gymnastischen Anstrengungen und nicht die – zumeist rat- und hilflose – Flucht in die Gedankenwelt der Esoteriker, sondern nur die kritische Prüfung an dem, „was jeder normalsinnige, nüchterne Mensch am eigenen Leibe spüren kann.“ (Hermann Schmitz)

Für Otto war Qigong, wie auch der Tanz, eine Form des Betens. Nicht als Bittgebet, sondern als Übung des Spürens, des Einspürens und Hinspürens. Oft sagte er: Das merkt man doch, das spürt man doch …
Hermann Schmitz hat die Qigong-Übungspraxis in einem seiner neueren Werke so beschrieben: „Es geht gleichsam um das Einstimmen in den Atem des Alls, den die Chinesen „Chi“ nennen und in leibgymnastischen Ritualen wie Chi Gong (…) pflegen.“  (2)

Otto Carstens wäre letzten Donnerstag 88 Jahre alt geworden. Genau einen Monat vorher ist er verstorben. Zu Hause. In Würde. In den Armen seiner geliebten Frau, im Kreise seiner Kinder.

Leib-Wächter des Qigong

Die deutsche Qigong-Szene verliert mit Otto Carstens den Leib-Wächter des Qigong und den bedeutendsten Lehrer für Leibesübungen im Lichte der Neuen Phänomenologie. Wir verlieren einen intimen Freund, unseren besten Lehrer, dem wir in unseren Gedanken und mit unseren Gefühlen verbunden bleiben werden. Mit Otto Carstens haben die Übungen eine neue Qualität erhalten, fernab von Phantasterei und zu erlernenden Glaubensmustern. Diese „neue Qualität“ ist die Rückbesinnung auf das Ursprüngliche, auf das „was jeder von sich spüren kann, ohne sich auf das Zeugnis der fünf Sinne zu stützen“, auf den Leib, so hat es der bedeutendste Leibphilosoph, Hermann Schmitz, definiert. Tagtäglich haben Otto Carstens und wir in den Werken von Hermann Schmitz verbracht und in der eigenen Lehr- und Übungspraxis unserer Leibes-Übungen prüfen können. Wer sich auf den Weg machen möchte, kann dieses mit einem kleinen Buch tun, das Otto immer gerne empfohlen hat: Der Leib, der Raum und die Gefühle (3). Mit Hermann Schmitz verband Otto Carstens als ein Wegbegleiter eine lange und tiefe, warme und freundschaftliche Beziehung, gepaart mit konstruktiven, philosophischen Streitigkeiten. Im Angesicht des Baumes, den Otto als letzte Ruhestätte ausgewählt hatte, mochten wir Otto zitieren:
„Mit festen Schultern steht gestemmt der Baum gegen das Nichts. Wo Baum ist, da ist Sein.“ – frei nach Nietzsche, berichtigt durch Otto Carstens, der dieses bewiesen hat, am eigenen Leibe erspürt…

Die erste Antwort zu unserem Hinweis auf Ottos Tod erhielten wir aus Athen von Hero Tsioli, einer langjährigen Freundin des Hauses Carstens, die unseren gemeinsamen Weg über die Jahre hinweg verfolgte.  Auch Su Hua Xiang, der seit Jahrzehnten aus der VR China nach Deutschland kommt, meldete sich, der mit Otto Carstens einen seiner ersten Schüler verlor, den er als einen der ersten Qigong-Lehrer überhaupt autorisierte. Er schrieb, er verliere seinen besten Freund in Deutschland, einen ernsthaften und aufrichtigen Studenten der Übungskünste. Beide verband eine Freundschaft mit gegenseitiger Hochachtung.

Mit vielen anderen können wir sagen:
Wir hatten das große Glück, Otto Carstens gekannt zu haben.

Wir sind sehr dankbar dafür!

Andrew & Ingo

(1)  Friesischer Wahlspruch
(2)  Hermann Schmitz: Der Weg der europäischen Philosophie.
       Eine  Gewissenserforschung. Band 1: Antike Philosophie. Verlag  Karl Alber, 2007
(3)  Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle, Bielefeld/Basel 2009